Zwei Jahre ist es her, dass der Debütfilm von Nora Fingscheidt hierzulande das System sprengte und gleichwohl international für Aufmerksamkeit sorgte. Das wuchtige Drama um eine Neunjährige, die mit ihrer Persönlichkeit überall aneckte und kaum zu bändigen war, feierte seine Uraufführung auf der Berlinale, gewann später etliche Auszeichnungen beim deutschen Filmpreis und verhalf sowohl der jungen Hauptdarstellerin als auch der Regisseurin zum Sprung ins internationale Filmgeschäft.

von Madeleine Eger

Die Netflixproduktion „The Unforgivable“, die auf der Vorlage der 2009 erschienenen britischen Miniserie „Unforgiven“ von Sally Wainwright basiert, ist der zweite Langfilm von Fingscheidt und kann direkt eine ganze Riege großer Namen vor der Kamera versammeln. Allerdings, und das hat der Streaminganbieter bedauerlicherweise nun schon mehrfach bewiesen, sind bekannte Schauspielgrößen keine Garantie für einen starken Film. So hat „The Unforgivable“ mit Sandra Bullock in der Hauptrolle nicht nur mit einer belastenden Schuld zu kämpfen, sondern leider auch mit einer Inszenierung, die erneut kaum herauszustechen vermag.

Ruth Slater (Sandra Bullock) wird nach 20 Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Draußen erwartet sie niemand, keine Familie, zu der sie heimkehren könnte. Die Frau, die wegen eines besonders schweren Delikts eine Haftstrafe verbüßen musste, versucht mit dem Eingliederungsprogramm ein Stück weit Fuß zu fassen, um sich auf die Suche nach ihrer kleinen Schwester (Aising Franciosi) zu begeben, die sie damals zurücklassen musste; diese wird jedoch schnell durch diverse Hindernisse erschwert und auch die Hinterbliebenen der Tat können Ruth nicht vergeben. Als der Tag der Entlassung dann endlich gekommen ist, packt die spürbar mitgenommene Frau ihre wenigen Habseligkeiten in der Zelle zusammen. Darunter das Foto eines Mädchens, ihrer Schwester. Offenbar ihr einziger Halt, an den sie sich schon über Jahre klammerte. Die lange Zeit in Haft steckt ihr sichtlich in den Knochen, ihr erstarrtes Gesicht lässt beinahe keine Regung erkennen. Was Ruth fühlt, wie es ihr geht, ist ihrer Mimik in kaum einem Moment zu entnehmen. Resignation? Hoffnungslosigkeit? Trauer, Schmerz oder schlichtweg maßlose Überforderung?

Der Einstieg in das schwermütige Drama macht es einem nicht leicht, die Frau einzuordnen, die für ihre Tat gut zwei Jahrzehnte ihres Lebens hinter Gittern verbrachte. Scheinbar antriebslos ergibt sie sich ihrem Schicksal, das in seiner Tristesse und mit neuen Regularien schon jetzt deutlich macht: Ein normaleres und womöglich glücklicheres Leben wird es für Ruth auch außerhalb der Gefängnismauern kaum geben. Hier fällt die Geschichte gleich mit der Tür ins Haus und macht um die Tat kein Geheimnis. Auch nicht darum, dass draußen jemand auf sie wartet, sie beobachtet und Rachegedanken entspinnt. „The Unforgivable“ ist im Kern ein durchaus interessantes Konstrukt, das einerseits die Schwere der vergangenen Tat zugleich ohne Umwege auf den Tisch legt, sich andererseits aber mit der Verknüpfung von Rückblenden und der Bedeutung der jungen Frau, die man immer mal wieder zu Gesicht bekommt, noch etwas zurückhält und erst später viel deutlicher macht. Problematisch sind dabei die sich immer wiederholenden Bilder, die ein Trauma umreißen, in ihrer Gänze aber nie wirklich greifbar oder stark emotional werden. Vielmehr verliert sich die Relevanz und der Eindruck, den die Bilder auf die Beteiligten hinterließ in einer nahezu nichtssagenden Redundanz. Informationen ja, Mitgefühl Fehlanzeige.

Begleitet von einem zu zaghaftem Score, der die Szenen lediglich melodisch untermalt, anstatt sie aussagekräftig zu untermauern, treiben die Figuren und vor allem Ruth in einer nebulösen Stadt von Ort zu Ort. So lassen sich nur sehr oberflächliche Charakterzüge ausbilden, die die nachfolgende Entwicklung und Entscheidungen gleichwohl mehr als undurchsichtig werden lassen. So ist Sandra Bullock als Ex-Sträfling einfach nur wortkarg, zurückhaltend und trotz ihrem zielstrebigen Vorhaben durchweg zu unnahbar, zu unantastbar. Die wenig aussagekräftige Figurenzeichnung wird jedoch nicht nur für die Hauptfigur zum Fallstrick in dieser trüben und entfärbten Großstadtdramatik. So bedienen die beteiligten Akteure fast ausschließlich eine Facette ihrer Figuren, um die Geschichte voranzutreiben, was aber schlussendlich die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen vermissen lässt. Eine komplette Kehrtwende eines Charakters und dessen folgende Handlungen sind damit zwar für das Finale zweckdienlich, tauchen aber quasi aus dem Nichts auf, lassen Glaubwürdigkeit, aber vor allem die dahinter aufkochenden Emotionen vermissen. Das, was „Systemsprenger“ so unfassbar gut zu transportieren vermochte, dem Publikum damit sprichwörtlich den Boden unter den Füßen wegzog und es mit einer ungeahnten Hilflosigkeit konfrontierte, kann Fingscheidt in ihrem neuen Drama nicht erneut aufrufen. Die Schwere der Thematik liegt auf der Hand, ob und in wieweit man mit Ruth Slater allerdings mitfühlen soll, ist bis zum Schluss unklar. Und das, obwohl sich später sogar noch ein Twist in dem Dilemma abzeichnet, der das Zeug dazu gehabt hätte, einen mehr als sprach- und fassungslos zurückzulassen.

Fazit

Starke Besetzung und eine im Grunde gewichtige und erschütternde Geschichte, die sich mühelose zu einem brillanten Drama hätte aufschwingen können. Wie so oft bei Netflixproduktionen verfängt sich aber auch „The Unforgivable“ zu sehr in repetitiven und leeren Bildern, die den Film durch eine erdrückende Oberflächlichkeit tragen und Figuren am Rande der Gleichgültigkeit porträtieren.

Bewertung

Bewertung: 4 von 10.

(40/100)

Bilder: ©Netflix